Das Kunstwerk "Mad Men"
Selten hat eine Fernsehserie so eindrucksvoll wie „Mad Men“ daran erinnert, dass auch TV-Produktionen eine Kunstform darstellen können. Viele Folgen (und auch einzelne Szenenkompositionen) sowie die Charakterentwürfe erinnern mich oftmals an Gemälde, deren inhärente Komplexität sich erst allmählich vor dem Auge des Betrachters entwickelt und Schicht um Schicht vielfältige Interpretationsmöglichkeiten entfaltet.
Die ersten beiden Staffeln von „Mad Men“ stellen genau solch ein „Kunstwerk“ dar, das man wie einen guten Wein idealerweise in Ruhe und mit voller Aufmerksamkeit stressfrei genießen sollte. Es steht außer Frage, dass bereits das bis dato selten in TV-Serien verwendete (und vor allem für Spielfilme vorbehaltene) Setting im New York der 1960er Jahre für sich genommen ein wesentliches Alleinstellungsmerkmal ist und eine ideale Ausgangsbasis für die exzellente Cinematographie und somit einen wesentlichen Teil der Faszination der Serie bietet. Doch das eigentliche Herz der Serie sind die perfekt in ihrer Zeit verwurzelten Charaktere, die Chef-Autor Matthew Weiner mit unvergleichlicher Sorgfalt entwickelt hat und mit einer ganz eigenen und scheinbar unbeirrbaren Gemächlichkeit durch ausgewählte Abschnitte des Jahrzehnts und persönliche Entwicklungsprozesse führt.
Die gerade in den USA zu Ende gegangene zweite Staffel dürfte wohl auch endgültig klar gestellt haben, dass es sich bei den 13 Episoden der ersten Staffel nicht um ein „One-Hit-Wonder“ gehandelt hatte. Stattdessen überboten Weiner und sein Autorenteam die Leistung der ersten Staffel und präsentierten erneut einen recht einsamen Leuchtturm in der jüngsten Diskussion um Qualitäts-Fernsehen. Jede Episode dieser zweiten Staffel war ein kleines Fest für Serien-Feinschmecker und hat mich intensiv in ihren Bann gezogen.
Im Mittelpunkt dieser Season stand vor allem die Entwicklung von Don und Bettys Ehe und ihr jeweiliger Selbstfindungsprozess. Betty ist im Verlauf der Ehekrise erwachsener geworden, während Don immer noch von seinem inneren Konflikt mit seinem Alter Ego Dick Whitman beherrscht wird. Doch auch wenn er in zahlreichen Seitensprüngen immer wieder nach sexuellen Abenteuern sucht und auch so manches Mal einfach gerne die Flucht ergriffen hätte, so ist es auch nicht zu bezweifeln, dass er seine Frau Betty aufrichtig liebt. Doch ebenso wie beide Eltern eine für Außenstehende irritierend distanzierte Beziehung zu ihren eigenen Kindern haben, so sind beide auch bisher nicht in der Lage gemeinsam eine funktionale Beziehung zu unterhalten. Dies liegt in erster Linie an Dons verkrampfter Verschlossenheit auch gegenüber der eigenen Familie, um das Geheimnis um seine Vergangenheit und Abstammung zu hüten. Eine Tatsache, der er sich in der vorletzten Episode der Staffel schließlich auch selbst bewusst wird, als er endlich einmal alle Fassaden seiner vorgetäuschten Persönlichkeit abschalten und vollkommen befreit auftreten kann.
Aber auch die ehemalige Sekretärin Peggy hat innerhalb der letzten Staffel einen spannenden Entwicklungsprozess durchlebt, bereits äußerlich zu sehen an ihrem deutlich selbstbewussteren Auftreten und ihrem neuen Kleidungs- und Frisurstils. Über den gesamten Verlauf der Staffel wurde über die Existenz eines möglichen Kinds spekuliert und die emotionale Auflösung dieser Ungewissheit im insgesamt erneut eher bedächtigen Seasonfinale gehörte auch dank der erstklassigen Schauspielerleistung von Elisabeth Moss („Peggy“) und Vincent Kartheiser („Pete“) zu den besten Dialogszenen der gesamten bisherigen Serie.
Auch jenseits dieser Hauptfiguren bietet „Mad Men“ sorgsam entworfene Charaktere, die in der abgelaufenen Staffel weiter ausgebaut wurden. In erster Linie ist da natürlich Pete zu nennen, der ebenfalls einen bemerkenswerten „Reifungsprozess“ durchschritten hat, nicht mehr ständig wie ein gekränkter kleiner Junge reagiert und schließlich sogar den verdienten Ritterschlag durch sein heimliches Vorbild Don Draper bekommt. Ebenfalls eine der am deutlichsten in Erinnerung bleibenden dramatischen Entwicklungen der Staffel hat auch Chef-Sekretärin Joan durchgemacht: Endlich hat sie ihren vermeintlichen Traummann gefunden, nur um dann in einer demütigenden Szene die Realität hinter der Fassade ihres Verlobten zu erkennen. Gleichzeitig ist sie aber auch nicht stark genug, daraus die Konsequenzen zu ziehen und täuscht nun selbst gegenüber ihren Kolleginnen eine heile Welt vor. Dazu muss sie auch noch den zielstrebigen Aufstieg von Peggy bei Cooper & Sterling mitansehen, während sie selbst nicht mal ansatzweise als (eigentlich geeignete) Kandidatin für einen Job in der Kreativ-Abteilung wahrgenommen wird. Und dann ist da der schwule Salvatore, der nach wie vor eine Lüge lebt und in einem homophoben Kollegenkreis ebenfalls still vor sich hinleidet.
Sicherlich mag das „Charakter-Schach“ und die insbesondere im Vergleich zu den zur Zeit so populären Crime-Shows sehr „gediegene“ Geschwindigkeit („Entschleunigung“ ;-)) der Serie nicht Jedermanns Sache sein — was sich auch deutlich in den für ein Cable-Network immer noch moderaten Quoten äußert (Selbst wenn sie dieses Jahr immerhin um ca 60% gestiegen sind). Dennoch wird aber auch diese Staffel von „Mad Men“ ohne jeglichen Zweifel wieder alle Drama-Kategorien der wesentlichen Fernsehpreise der kommenden Award-Season dominieren. Und trotz aller Diskussionen um möglicherweise auslaufende Verträge der Autoren und Schauspieler kann ich mir nicht vorstellen, dass der kleine Sender amc auch nur im Traum erwägt, diese Serie ohne ihren Showrunner Matthew Weiner fortzuführen. Die jüngsten Gerüchte um eine 10-Millionen-Forderung von Weiner und die drauffolgende öffentliche Suche der Produktionsfirma Lionsgate nach einem neuen Showrunner sind nicht mehr als lautes Verhandlungstamtam. Auch wenn HBO sicherlich schon im Hintergrund mit den Hufen scharrt und wohl einiges dafür geben würde, diese Serie ins eigene Portfolio übernehmen zu können.
Als „weiterführende Lektüre“ zu den einzelnen Episoden seien an dieser Stelle insbesondere die exzellenten Recaps von TV-Kritiker Alan Sepinwall empfohlen, der die einzelnen Episoden mit einer beeindruckenden und inspirierenden Interpretationsfreude auseinandernimmt — auch wenn manche seiner Vermutungen durch spätere Geschehnisse in der Serie widerlegt wurden. Doch auch die daran anschließenden Kommentare seiner Blog-Leser sind oftmals höchst lesenswerte Analysen und Spekulationen über die Charaktere und ihre Handlungen. Außerdem hat Sepinwall jüngst ein ausführliches Interview mit Matthew Weiner über Season 2 geführt.
Jetzt ist allerdings erst mal wieder die Geduld des Zuschauers (oder die DVDs der ersten Staffel) gefragt, bis im Sommer 2009 hoffentlich die DVDs der zweiten Season erscheinen und schließlich mit dem Beginn der dritten Staffel das magnum opus „Mad Men“ um weitere Meisterwerke ergänzt wird.
29. Oktober 2008 um 12:04 Uhr
Hallo Sascha,
gerade weil ich Deine Kritiken schätze, erlauben ich mir den Hinweis auf 2 kleine Nachlässigkeiten in Deiner Kritik:
1.) „Es steht nicht außer Frage, das …“ Das heißt: Es steht infrage, es ist fraglich?
2.) „Die (…) zweite Staffel dürfte wohl auch letzte Zweifel beseitigt haben, dass es sich (…) der ersten Staffel um ein “One-Hit-Wonder” gehandelt haben könnte“. Dass heißt, bei der ersten Staffel hat es sich zweifellos um ein One-Hit-Wonder gehandelt?
Nichts für ungut,
K.
29. Oktober 2008 um 12:18 Uhr
Danke für die Hinweise, ich hab’s nun etwas klarer formuliert. Wie man auch an Wortkombinationen wie „inhärente Komplexität“ sieht, hatte ich heute Morgen noch keinen Kaffee 😉 (was ich jetzt aber dringend nachhole)
29. Oktober 2008 um 13:15 Uhr
Ich kann Deiner sehr guten Kritik uneingeschränkt zustimmen. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass die Qualität der ersten Staffel gehalten werden kann. Stattdessen war die zweite Staffel sogar noch stärker. Jeder Charakter ist hervorragend ausformuliert, sogar die Nebendarsteller. Ich bin extrem optimistisch, dass die dritte Staffel sogar noch besser wird, weil jeder Charakter noch Entwicklungspotential hat.
29. Oktober 2008 um 15:01 Uhr
Okay, ich hab noch keine Folge der Serie gesehen, und schätze die hier veröffentlichten reviews sehr.
Allerdings enthält die hier oben soviele Schlüsselwörter, dass bei mir sämtliche Alarmglocken anfangen zu schrillen – z.B. „Kunstwerk“,„laaaaaaaaaaaaaaaaaangsame Entwicklung“, „inhärente Komplexität“.
Mir scheint diese Serie – und selbst für US Kabel TV Verhältnisse sind die Quoten bescheiden, sehr bescheiden – doch sehr auf ein sehr spezielles Publikum zugeschnitten zusein – zudem u.a. der übersättigte TV Kritiker, der zuviele wirklich schlechte Produktionen ansehen mußte, gehört 😉
Natürlich werde ich mir die Serie mal ansehen, wenn ich die Gelegenheit habe, aber bei soviel Kritikerlob im internet, und so schlechten Kabelquoten, da bin ich doch sehr skeptisch…
29. Oktober 2008 um 16:50 Uhr
Man muss den Stil mögen, aber wenn man das tut, dann vergöttert man die Serie eben wirklich. Und wenn sowas dann auch noch ein Nischendasein fristet, hat man es noch um so viel mehr gerner. 😉 Mad Men ist eben das für Drama, was Arrested Development für Comedy war.
Ich fand übrigens die Videos auf amctv.com schon für Season 1 recht hilfreich. Da gibt es zu jeder Folge fünfminütige Nachbetrachtungen mit Matthew Weiner und verschiedenen Darstellern. Die haben mir schon das ein oder andere mal geholfen, die Zusammenhänge besser zu verstehen.
10. November 2008 um 21:58 Uhr
[…] dazu neigen, US-Fernsehserien, die in Deutschland noch nicht mal angelaufen sind, obsessiv auf Blogs, youtube und twitter zu verfolgen. Das sollten Sie aber, denn dann wüssten Sie, dass Don Draper […]
16. November 2008 um 09:45 Uhr
Ich denke auch, dass Mad Men eine wunderbar begrüssenswerte Ausnahme in der Serienwelt darstellt. Natürlich sind die Quoten nicht hervorragend, das sind sie bei Qualität fast nie – und John Hamm ist einfach großartig!