Große kleine Filme. Nach Reviews zu Filmen wie „Bin-jip„, „Blue Car„, „Ghost World“ und „Fucking Amal“ kommt diesmal wieder einer dieser kleinen Independent Produktionen mit schmalen Budget zum Zuge, die mit viel Charme und Liebe zum Detail zahlreichen großen Multi-Millionen Hollywood Fließband-Inszenierungen locker den Rang ablaufen.
„Speak“ ist eine ShowTime Independent Produktion basierend auf der gleichnamigen Buchvorlage von Laurie Halse Anderson. Dieser eigentlich als „TV Movie of the Week“ konzipierte Film erzählt die Geschichte der 13jährigen Schülerin Melinda (Kristen Stewart), die gerade ihr erstes Highschool-Jahr beginnt. Nachdem sie im Sommer zuvor bei einer ausser Kontrolle geratenen Party die Polizei gerufen hatte, ist sie in ihren neuen Klassen regelrecht eine Aussätzige. Ihre Freundinnen haben sich von ihr abgewendet, Melinda zieht sich immer mehr in ihre eigene kleine Welt zurück und spricht fast kein Wort mehr. Sie trägt ein schweres Geheimnis mit sich herum, das sie niemanden anvertrauen kann. Ihr Eltern wissen nicht mehr, was sie mit ihrer Tochter tun sollen. Über den Verlauf von einem dreiviertel Jahr erleben wir nun aus Melindas Sicht, wie sie versucht, ihre Erlebnisse zu verarbeiten.
Auch nach elf Jahren setze ich bei „Teenage-Angst“ Filmen und Serien immer noch „My So-Called Life“ und deren Hauptdarstellerin Claire Danes als Maßstab aller Dinge an. Mit „Speak“ und Hauptdarstellerin Kristen Stewart habe ich nun eine Produktion gefunden, die an diesen Qualitätsmaßstab so nahe herankommt wie kaum ein Film oder Serie zuvor. Das beginnt schon bei der Hauptdarstellerin, die wie seinerzeit Claire Danes bei den Dreharbeiten gerade mal 13 Jahre alt war. Aber auch Productionvalue und die Qualität des Drehbuchs lassen einige Parallelen zu „My So-Called Life“ erkennen. Regisseurin Jessica Sharzer hat in Interviews auch Winnie Holzmans Arbeit an „My So-Called Life“ als Teil ihrer Inspiration für die Umsetzung der Buchvorlage in Film herausgestellt.
Die 13jährige Stewart, vor allem bekannt als junge Tochter von Jodie Fosters Charakter in „Panic Room“ liefert in dem Film eine atemberaubende Performance ab. Was dieses junge Mädchen, die den Großteil des Filmes schweigend verbringt, alleine durch ihre Mimik und ihre Körpersprache vermittelt, ist einzigartig. Kristen Stewart könnte eine große Karriere vor sich haben.
Über die Buchvorlage kann man in ein paar Punkten trefflich streiten, ich habe die gleichnamige Erzählung von Laurie Halse Anderson zwar nicht gelesen, aber sie zählt wohl mittlerweile zur Standardlektüre an zahlreichen US-Highschools. Es dürfte also einige Jahrgänge von US-Schülern geben, die Referate und Hausarbeiten zu dem Film machen müssen — und ich könnte mir vorstellen, dass dieses Buch die jugendlichen Leser eher anspricht als bspw. „Effi Briest“ von Fontane. Vielleicht um dieser jungen Zielgruppe entgegenzukommen ging Anderson aber ein paar Kompromisse ein, die sich auch im Film widerspiegeln. Einige Charaktere im Film (insbesondere die Lehrer) sind mir leicht überzeichnet und unrealistisch. Hie und da werden dadurch Situationen provoziert, die dem Realismus des Films etwas entgegenwirken. Aber vielleicht sieht die Hauptcharakterin Melinda diese Personen ja auch so überzeichnet — und schliesslich erleben wir die Geschichte ja aus ihrer Perspektive. Buch und Film sind mit Symbolismus und Metaphern gut gesättigt, aber wirken trotz der deutlichen „Message“ des Films kaum aufdringlich.
Regisseurin Jessica Sharzer musste bei dieser Produktion mit knapp einer Million US-Dollar auskommen, für Spielfilme ein geradezu lächerliches Budget. Zudem waren die Dreharbeiten von Unglücken und Pech verfolgt. Aber gerade dadurch war Sharzer gezwungen, sich auf das Wesentliche zu beschränken. Der ganze Film wurde mit nur einer Kamera gedreht, da lassen sich dann auch in der Kürze der Zeit nicht viele Umschnitte oder Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln realisieren. Ob gewollt oder nicht, aber gerade dadurch entstanden IMHO teilweise faszinierende Aufnahmen. Oftmals steht Stewart vollkommen allein und verloren in einem riesen Frame und unterstreicht dadurch die Einsamkeit und Isolierung ihres Charakters. „Speak“ ist Sharzers erste größere Produktion und sie liefert ein beeindruckendes Erstlingswerk ab. Auch Disziplinen wie Costume Design, Make-Up und Production Design sind erstklassig umgesetzt. Man merkt eben in diesen Details, dass jede Person der Filmcrew mit ganzem Herzen in die Sache investiert war und das nicht „just another job“ war.
Auch die Nebenrollen sind gut ausgesucht: Steve Zahn („Riding in Cars with Boys“) als engagierter Kunstlehrer, Hallee Hirsh („ER“) als beste Freundin, sowie Elizabeth Perkins („Weeds“) und D.B. Sweeney („Harsh Realm“) als überforderte Eltern bilden das solide Grundgerüst für die starke Kristen Stewart.
Autorin Anderson und Regisseurin Jessica Sharzer bestreiten auch gemeinsam den informativen und unterhaltsamen Audio-Kommentar der DVD. Die sonstigen Extras fallen etwas dürftig aus — es gibt es kurzes Behind-the-scenes Feature und für all die Schüler, die sich diesen Film für ihre Hausaufgaben ausleihen, auch noch Interpretationshilfen sowie drei Seiten aus der Buchvorlage. An der Bild- und Tonqualität (Widescreen, 5.1) lässt sich nichts aussetzen.
Fazit: Ein berührender Film mit einer erstklassigen Schauspielleistung. Nicht nur für Teenager. Wem „Blue Car“, „Fucking Amal“ und/oder „My So-Called Life“ gefiel, der sollte sich diesen Film auch mal auf die Liste setzen.
Die DVD ist seit 27. September im US-Handel erhältlich — sie ist leider etwas rar. Da dies eigentlich eine Art „TV Movie of the Week“ ist, ist ein Kinostart mehr als unwahrscheinlich. Vielleicht läuft er ja irgendwann mal im deutschen TV. Kristen Stewart kann man demnächst sehen in dem Fantasy Abenteuer „Zathura“.